Als mich der Wecker meines Smartphones um halb sieben ans Aufstehen erinnert, klettere ich schlaftrunken aus meinem Schlafsack. Mit einer Milchkanne in der Hand und ohne Frühstück im Bauch, trotte ich kurz darauf mit meinen Wwoofing-Kollegen durch eine viel zu hohe norwegische Wiese und ärgere mich, die mir angebotenen Gummistiefel ausgeschlagen zu haben. In meinen klatschnassen Sneakern steige ich – immer noch im Halbschlaf – über einen Stacheldrahtzaun, als mir eines der Wwoofing-Mädels zuflüstert: „Wenn er auf dich zukommt, läufst du ihm laut brüllend entgegen!“

Ich kann ihr nicht ganz folgen und noch während ich versuche mir die tiefere Bedeutung ihrer Aussage bewusst zu machen, passieren wir eine Hecke hinter der mir der buchstäbliche Tod aus unsäglich großen Nüstern seine Meinung über mich direkt ins Gesicht schnaubt. Auge in Auge stehe ich einem der größten Bullen gegenüber, den Südnorwegen je gesehen haben muss. Ich weiß noch wie ich dachte: „Der ist doch 100Pro gedopt!“, bevor ich Schutz hinter meinem Milchkännchen suchte.

Agentur-Alltag vs. Blick über den Tellerrand

Meine Gedanken schweifen ab. Zurück zu meinem gut 2000 Kilometer weiter südlich gelegenen Wohnsitz. In wenigen Minuten wird vermutlich Jutta die Tür zu unserer Agentur aufschließen. Gefolgt von weiteren Mitarbeitern die ihre Plätze als Art Designer, Webworker, Social-Media- oder SEO-Experten einnehmen. Ich überlege kurz, ob ich mich im Angesicht des Bullen jetzt lieber einem bevorstehenden Kundentermin, einer TYPO3-Schulung oder meiner To-do-Liste für Projekt XYZ zuwenden würde, gelange gedanklich aber zu einem klaren Nein. Zuerst will ich wissen was der Bulle davon hält, wenn wir uns an sein Mädchen ranmachen.

Auszeit nehmen vom Job! Oder: Familie geht vor.

2013 rangen wir uns endlich dazu durch, einen längeren Auslandsaufenthalt in Angriff zu nehmen. Ein altes Wohnmobil kaufen und kreuz und quer durch Skandinavien reisen. Unser Ältester sollte im darauffolgenden Jahr eingeschult werden, was längere Vorhaben wie dieses für die nächsten Jahre zwar nicht unmöglich, aber dennoch unwegsam machen würde. Zwar ließen finanzielle Engpässe den Traum vom Wohnmobil schnell platzen, aber das tat der Sache keinen Abbruch. Wir entdeckten das Wwoofing-Konzept für uns und so pendelten wir in perfekter Work-and-Travel-Manier von einer Farm zur nächsten (Wwoof = World-Wide Opportunities on Organic Farms | weitere Infos auf www.wwoof.net).

Selten hat mir eine Entscheidung so viel Mut abverlangt, wie die zu meinen Vorgesetzten zu gehen und sie darüber zu informieren, dass ich mir eine längere Auszeit nehmen möchte. Sich rar zu machen, kann in kleineren Betrieben echte Löcher reißen, die ohne weiteres auch nicht akut durch eine Ersatzkraft überbrückt werden können. Die Last verteilt sich daher meist auf die verbleibenden Mitarbeiter, weshalb eine verhaltene Reaktion seitens der Geschäftsführung hinsichtlich derart außergewöhnlicher Anfragen durchaus nachvollziehbar ist. Doch das Gefühl die Batterien mal wieder aufladen zu müssen und Abstand zu bestimmten Projekten zu gewinnen gewann zunehmend an Priorität. Außerdem sollte unser familiäres Bedürfnis einen positiven und stärkenden Effekt auf unser Zusammensein als Familie haben und ein gut funktionierendes privates Umfeld ist für mich Grundvoraussetzung für gute Leistungen am Arbeitsplatz.

Hinterm Horizont…

Also hieß es irgendwann tatsächlich: Auszeit nehmen! Wir fuhren los, gespannt auf die Ereignisse die da oben auf uns warten würden. Während unseres Wwoofing-Projekts ernteten wir Unmengen an Kräutern, machten Holz, bauten eine Carport-Auffahrt, schlachteten Schafe, bauten Zäune, lernten sehr viel über nachhaltige und alternative Lebenskonzepte und knüpften Kontakte, die noch heute von Bestand sind. Natürlich konnte ich keine dieser gewonnenen Erkenntnisse in irgendeiner Form unmittelbar in meinen Arbeitsalltag implementieren. Aber diese Auszeit hatte auch nicht das Ziel einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme, vielmehr ging es um eine persönliche Horizonterweiterung unter Berücksichtigung meiner akuten Bedürfnisse. Diese eigene Achtsamkeit mir gegenüber führte zu einer neuen und gesteigerten Motivation für meinen Job. Voller Tatendrang kehrte ich zurück und stürzte mich energiegeladen auf alte wie neue Projekte. Ich konnte konsequent und effizient meinen Arbeiten nachgehen und so meinen Arbeitgebern das zurückgeben, was sie mir an Freiraum ermöglicht hatten.

Nachwort an die Arbeitnehmer

Ich kenne Workaholics die über Jahre hinweg so gut wie keinen Urlaubstag in Anspruch nehmen, anscheinend aber auch nicht das Bedürfnis oder den Drang nach einer Auszeit verspüren. Daher kann man sicher nicht pauschalisieren und behaupten, dass Auszeit nehmen vom Job das Beste für jeden Angestellten ist. Sollte es dir aber ein Herzensanliegen sein und du das Gefühl haben, dass du im Sinne deines eigenen Wohlbefindens dringend Abstand vom Arbeitsalltag benötigst, dann geh das Thema an. Suche das Gespräch mit deinen Vorgesetzten und lote Möglichkeiten zur Umsetzung aus. Vielleicht sparst du vorab ein wenig Geld, mit denen du eine unbezahlte Auszeit finanzieren kannst. Eventuell ist in deinem Arbeitsumfeld aber auch ein Sabbatical möglich oder dir stehen noch ein paar Monate Elternzeit zu, die du hierfür einsetzen kannst.

Nachwort an die Arbeitgeber

Die Auszeit eines Mitarbeiters kann sich im ersten Moment als nicht sehr lukrativ darstellen. Doch der aus der Auszeit zurückkehrende Angestellte ist sicherlich ein Gewinn für Unternehmen, Kunden und Kollegen. Überlegen Sie, inwiefern sich das Ermöglichen von Auszeiten effektiv auf Ihre unternehmerischen Ziele auswirken kann. Gesunde und leistungsfähige Teamplayer werden das Ergebnis sein. Weniger unplanmäßige Ausfälle durch Fehltage. Eine höhere Bereitschaft zu Höchstleistungen in Stoßzeiten, usw.

Vielleicht gehen Sie sogar einen Schritt weiter und räumen Auszeiten nicht nur grundsätzlich ein, sondern fordern Ihre Mitarbeiter regelrecht dazu auf, in regelmäßigen Zyklen Abstand für einen bestimmten Zeitraum vom Unternehmen zu gewinnen. Eine konzeptionelle und rechtzeitige Herangehensweise an diese Thematik sorgt für geplante und kompensierbare Auszeiten. Teilen Sie Ihren Angestellten mit, dass Sie die Vorhaben und Bedürfnisse Ihrer Kollegen kennenlernen und unterstützen wollen. Dadurch sorgen Sie für klare Verhältnisse unter den Mitarbeitern und beugen schlechtem Gerede und Mobbing-Versuchen vor.