“Machen Sie bitte noch ne zweite Kasse auf?” plärrt eine gehetzte Dame von einem der hinteren Plätze der Schlange. Ich muss schmunzeln. Zum einen weil mir schlichtweg der Mut fehlen würde quer durch einen Feierabendbetrieb-Discounter zu brüllen, zum anderen – beschämenderweise – aus Schadenfreude, da ich gegenwärtig vermutlich weniger unter Zeitdruck stehe, als die oben erwähnte Miteinkäuferin. Wenige Sekunden später reagiert die Kassiererin an Kasse 2, öffnet Kasse 1 und ich sehe mich plötzlich an Position 1 einer neuen Schlange. Ein wahrer Einkaufswagentross setzt sich erleichternd aufseufzend in Bewegung und reiht sich hinter mir auf.

Woher kommt dieses Gehetztsein? Wieso tun wir uns das an? Trägt die Erfindung der Zeit, bzw. ihre Einteilung in Sekunden, Minuten, Stunden zu dieser Hektik bei? Alles orientiert sich an Zeitvorgaben: Schlaf, Essen, Arbeit, Frei’zeit’. Zeit ist Geld. Mir fehlt es einfach an Zeit. Wo ist nur die Zeit geblieben?

Meine Gedanken zum Thema Zeit riefen mir ein altes Leseheft ins Gedächtnis: Den Papalagi (sprich: Papalangi). Hierin schildert ein Südseehäuptling (Tuiavii), wie er unsere westliche Zivilisation erlebt. Papalagi heißt der Weiße, der Fremde, prinzipiell sind also wir damit gemeint. Die Kapitel des Buches lauten bspw. Vom Fleischbedecken des Papalagi, Vom runden Metall, Die vielen Dinge machen den Papalagi arm (!), usw. Eines jedoch trägt den Titel Der Papalagi hat keine Zeit. Nachfolgend ein Auszug:

[…] er liebt vor allem aber auch das, was sich nicht greifen läßt und das doch da ist – die Zeit. Er macht viel Wesens und alberne Rederei darum. Obwohl nie mehr davon vorhanden ist, als zwischen Sonnenaufgang und -untergang hineingeht, ist es ihm doch nie genug.
Der Papalagi ist immer unzufrieden mit seiner Zeit, und er klagt den großen Geist dafür an, dass er nicht mehr gegeben hat.
[…] Das ist eine verschlungene Sache, die ich nie ganz verstanden habe, weil es mich übel anmacht, länger als nötig über solcherlei kindische Sachen nachzusinnen. […] eine kleine, platte, runde Maschine, von der sie die Zeit ablesen können. Man übt es mit den Kindern, indem man ihnen die Maschine ans Ohr hält, um ihnen Lust zu machen.
[…] Ich sage, dies möchte eine Art Krankheit sein; denn angenommen, der Weiße hat Lust, irgend etwas zu tun, sein Herz verlangt danach, er möchte vielleicht in die Sonne gehen oder auf dem Flusse im Canoe fahren oder sein Mädchen lieb haben, so verdirbt er sich zumeist seine Lust, indem er an dem Gedanken haftet: Mir ward keine Zeit, fröhlich zu sein. Die Zeit wäre da, doch er sieht sie beim besten Willen nicht. Er nennt tausend Dinge, die ihm die Zeit nehmen, hockt sich mürrisch und klagend über eine Arbeit, zu der er keine Lust, an der er keine Freude hat, zu der ihn auch niemand zwingt, als er sich selbst. Sieht er dann aber plötzlich, daß er Zeit hat, dass sie doch da ist, oder gibt ihm ein anderer Zeit – die Papalagi geben sich vielfach gegenseitig Zeit, ja nichts wird so hoch geschätzt als dieses Tun – so fehlt ihm wieder die Lust, oder er ist müde von der Arbeit ohne Freude. Und regelmäßig will er morgen tun, wozu er heute Zeit hat.
Weil jeder Papalagi besessen ist von der Angst um seine Zeit, weiß er auch ganz genau, und nicht nur jeder Mann, sondern auch jede Frau und jedes kleine Kind, wieviele Mond- und Sonnenaufgänge verronnen sind, seit er selber zum ersten Male das große Licht erblickte. Ja, dieses spielt eine so ernste Rolle, dass es in gewissen, gleichen Zeitabständen gefeiert wird mit Blumen und großen Essensgelagen. Wie oft habe ich verspürt, wie man sich für mich zu schämen müssen glaubte, wenn man mich fragte, wie alt ich sei, und wenn ich lachte und dies nicht wußte. “Du mußt doch wissen, wie alt du bist.” Ich schwieg und dachte: es ist besser, ich weiß es nicht. Wie alt sein, heißt, wieviele Monde gelebt haben. Dieses zählen und nachforschen ist voller Gefahr, denn dabei ist erkannt worden, wieviele Monde der meisten Menschen Leben dauert. Ein jeder paßt nun ganz genau auf, und wenn recht viele Monde herum sind, sagt er: “Nun muß ich bald sterben.” Er hat keine Freude mehr und stirbt auch wirklich bald.
Der Papalagi hat die Zeit nicht erkannt, er versteht sie nicht, und darum mißhandelt er sie mit seinen rohen Sitten, Oh, ihr lieben Brüder! Wir haben nie geklagt über die Zeit, wir haben sie geliebt, wie sie kam, sind ihr nie nachgerannt, haben sie nie zusammen- noch auseinander-legen wollen. Nie ward sie uns zur Not oder zum Verdruß. Der unter uns trete vor, der da keine Zeit hat! Ein jeder von uns hat Zeit die Menge; aber wir sind auch mit ihr zufrieden, wir brauchen nicht mehr Zeit, als wir haben und haben doch Zeit genug. Wir wissen, dass wir immer noch früh genug zu unserem Ziele kommen und dass uns der große Geist nach seinem Willen abberuft, auch wenn wir die Zahl unserer Monde nicht wissen. Wir müssen den armen, verirrten Papalagi vom Wahn befreien, müssen ihm seine Zeit wiedergeben. Wir müssen ihm seine kleine runde Zeitmaschine zerschlagen und ihm verkünden, dass von Sonnenaufgang bis -untergang viel mehr Zeit da ist, als ein Mensch gebrauchen kann.

Und? Was denkt ihr? Ticken wir noch richtig? Mein Leben ist bestimmt vom auf die Uhr schauen. Wecker stellen, Jobzeiten pflegen, Mittagspause nicht verpassen, rechtzeitig zum Feierabend zu Hause sein, ausgiebig mit den Kizz spielen aber trotzdem früh genug ins Bett stecken, damit ich nach Möglichkeit noch genug Zeit habe die Beine hochzulegen oder sonst was zu tun ohne nach wenigen Minuten bereits wieder einzuschlafen…

Der Südseehäuptling will uns unsere Zeit wiedergeben. Ich wünschte er könnte es! Aber wie würde das funktionieren? Wie würde unser Alltag ohne Zeitmessung aussehen? Wir würden vermutlich im Chaos versinken… Warum brauchen wir Urlaub? Ist es nicht so, dass wir in Länder oder Umgebungen fliehen, in denen die Zeit still zu stehen scheint? Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Aus’zeit’? Warum sprechen immer mehr Menschen davon, dass sie genau diese so dringend benötigen?

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